Google hat exakt 0,27 Sekunden gebraucht, um 370.000 Einträge zur Suchanfrage „Machtmissbrauch Medien“ auszuspucken. In die Täter-Rolle schlüpft dabei meist der alte, männliche Vorgesetzte. Das Opfer ist die junge, weibliche Mitarbeiterin. Machtmissbrauch geht jedoch über Alters- und Geschlechtergrenzen hinweg. Machtmissbrauch lähmt ganze Redaktionen.
„Raphaela Scharf gegen Wolfgang Fellner“ hat in Österreich hohe Wellen geschlagen. Die Journalistin und Moderatorin wirft dem Medienunternehmer sexuelle Belästigung vor und verliert daraufhin ihren Job. Das monatelange Ringen vor Gericht endet mit einem Vergleich. Raphaela Scharf zieht ab und Wolfgang Fellner macht weiter: Tageszeitung, Radio und TV. Im eigenen Fernsehsender moderiert er nicht nur, sondern steigert auch weiter seine Quoten.
Die wenigsten Fälle bekommen eine solche Aufmerksamkeit wie „Scharf vs. Fellner“. Und trotzdem nützt das nichts – dieser Vorfall ist keine Blaupause, weil er de facto keine Konsequenzen hat. Der mutmaßliche Täter sitzt am Ende der Nahrungskette und wird sich wohl kaum selbst entlassen.
70% haben Machtmissbrauch erlebt
Nur wenige Betroffene sind so mutig wie Raphaela Scharf. Um aus wenigen Mutigen, viele Mutige zu machen, haben eine Handvoll branchenkundiger Frauen den Verein „Columna V“ gegründet. Sie fordern von Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) eine durch öffentliche Mittel finanzierte, unabhängige Beratungsstelle, um Belästigung, Gewalt und Machtmissbrauch im Mediengeschäft zu bekämpfen.
Eine Online-Umfrage des Vereins unter gut 220 Medienmacher:innen in Österreich zeigt: rund 70% der Beschäftigten waren bereits von Machtmissbrauch betroffen. Diese Zahl zeichnet das klare Bild eines strukturellen Problems. Nicht das Bild von 70 unglücklichen Einzelfälle in 100 Gelegenheiten.
In Österreich sind gut 5.300 Menschen (Stand 2018/2019) im Bereich Journalismus tätig. Haben 70% also bereits Machtmissbrauch erlebt, so müsste es – rein rechnerisch – über 3.700 Opfer in Österreich geben. „Hier passiert viel im Dunkeln. Nur wenige Fälle gelangen tatsächlich an die Öffentlichkeit. Es wird viel unter den Teppich gekehrt“, sagt Vereinsvorsitzende Katrin Grabner im Interview für diesen Blog.
Kontrolle braucht Kontrolle
„Ein System, das verdunkelt, kann selbst nicht aufdecken“, zitiert Katrin Grabner eine Vereinskollegin, die damit ins Schwarze trifft. Medien sind die vierte Gewalt im Staat – ein Kontrollorgan. Braucht das Kontrollorgan jetzt selbst ein Kontrollorgan? *
Machtmissbrauch intern aufzuklären ist schwer – siehe Causa Fellner. Machtmissbrauch zu beweisen ist noch schwerer – siehe Causa Fellner. Machtmissbrauch von Beginn an zu unterbinden ist beinahe unmöglich – siehe Causa Fellner.
Passiert Machtmissbrauch, passieren Emotionen: Angst, Fassungslosigkeit, Wut, Hilflosigkeit, Überforderung, Frustration und Scham. Schafft es ein Opfer all diese Emotionen zu überwinden und Täter:innen anzuklagen, dann ist das Problem noch lange nicht gelöst. Denn dann greift das System. „Die Verantwortlichen decken sich gegenseitig und legitimieren in gewisser Weise gegenseitig ihr Verhalten“, erklärt Katrin Grabner.
Opfer sind in der Beweispflicht. Opfer müssen sich erklären. An diese Stelle treten deshalb „Columna V“ und ihre Forderung nach einer unabhängigen Vertrauens- und Beratungsstelle. Mit einer solchen Einrichtung könnte Österreich Vorbild werden! In Deutschland arbeiten etwa dreißig Mal so viele Journalist:innen, auch dort passiert Machtmissbrauch in Medienhäusern täglich. Eine Anlaufstelle – explizit für betroffene Medienschaffende aller Altersgruppen und Geschlechter – gibt es nicht.
Manipulation und Hierarchie
In jedem Klischee steckt eine Wahrheit. Und so mag es sein, dass die häufigsten Fälle von Machtmissbrauch den „alten Chef“ und die „junge Mitarbeiterin“ betreffen. Aber das ist nicht die einzige Wahrheit. Machtmissbrauch folgt einem Muster: zum eigenen Vorteil anderen schaden. Durch Diskriminierung, Schikane, Manipulation und Kontrolle. Und dieses Muster hat viele Gesichter.
Wer seine Macht missbraucht, tut das im Kontext von Autorität und Hierarchie. Es gibt immer ein (unsichtbares) Macht-Gefälle. Die Hierarchie kann steil oder flach sein. Formell oder informell. So vielfältig Hierarchien sind – durch Position, Herkunft, Geschlecht, Alter oder Betriebszugehörigkeit – so vielfältig ist auch Machtmissbrauch.
Schaden für den Journalismus
Zieht Machtmissbrauch in Redaktionen ein, dann gibt es nie nur ein Opfer. Redaktionsarbeit ist Teamarbeit – Kolleg:innen sind oft auch Freunde. Es entsteht zwangsweise ein Loyalitätskonflikt im Team. Auch andere Mitarbeiter:innen stehen in Abhängigkeit zum/zur Täter:in, obwohl sie nicht offensichtlich Opfer sind.
Machtmissbrauch bedeutet Kontrolle. Und Journalismus lebt vom Diskurs. Wird der durch eine Person dominiert und kontrolliert, leidet der journalistische Austausch oder wird gar - nach Facon der Täter:innen - unterbunden. Auch Themen und Berichterstattung werden somit zu Opfern.
Aufarbeitung ist unverzichtbar
Der Fall Wolfgang Fellner zeigt, wie Aufarbeitung in einem Betrieb nicht funktioniert. Es muss Konsequenzen geben. Menschen, die ihre Macht missbrauchen, müssen Bühnen verlassen. Medienunternehmen müssen ihre Vorfälle aufarbeiten - transparent und akribisch. Nicht nur in den Chefetagen, sondern mit dem gesamten Team.
Machtmissbrauch hinterlässt immer Spuren. Werden die Anzeichen, Gefühle und Dynamiken nicht aufgearbeitet und Steigbügel enttarnt, dann ist das der Nährboden für den nächsten Vorfall: den nächsten vermeintlichen Einzelfall in einem System, das Machtmissbrauch bis dato unkontrolliert möglich macht.
* „Columna V“ – gesprochen Vogel-V, steht eigentlich für die römische Zahl Fünf. Der Name symbolisiert die fünfte Gewalt im Staat, um die vierte Gewalt, die Medien, zu kontrollieren.